Michael Hübl
Gustav Kluge

 

Wir nehmen die Dinge wie sie sind. Subjekt, Prädikat, Objekt: Wir – nehmen – die Dinge. Dazu eine modale Ergänzung: wie sie sind. Mut­ter, Vater, Kind. Dazu: Familie, Gesellschaft, Welt. Die Welt ist unüber­sichtlich geworden, undurchschaubar in ihren Machtverhältnissen und Funktionsmechanismen. Aber wir nehmen die Verhältnisse, wie sie sind. Wenn auch mit Unbehagen, weil wir ahnen, benennen können oder ein­fach nur fürchten, dass es nicht gut bestellt ist um den Zustand der Welt mit ihren sozialen und psychosozialen, ökonomischen und ökolo­gischen, militärischen oder geostrategischen Gegebenheiten. Dieses Unbehagen löst im besten Fall Gegenbewegungen aus, Gegenbewe­gungen des Denkens, des Verhaltens, des Handelns. Vielleicht jedoch bleibt es auch erst einmal nur bei Irritationen, bei Zweifeln und dem pochenden Verdacht, dass etwas nicht stimmt. Vielleicht setzen dann stockende Versuche ein, herauszufinden, welche Wahrheiten etwa das täglich erfahrbare weiße Rauschen endlosen, grenzenlosen Informati­onsgestöbers möglicherweise verschleiert. Bei dieser Suche spielt die Kunst eine wichtige Rolle. Sie gilt heute als Gegenwelt, als Ort, an dem weder Platz ist für falsche Versprechungen noch für verlogene Schön­färberei. Sie verspricht, ein Modell zu sein, für ein besseres, ethisch in jeder Hinsicht ambitioniertes Dasein. Die Kunst als Mother of Hope. Der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas maß ihr eine weniger hoffnungsfrohe Bedeutung bei. Kunst betrachtete er mit Skepsis. Zeit­weise sprach er ihr sogar ab, für das eigentliche Leben irgendwie von Belang zu sein. In seinem Essay „Die Wirklichkeit und ihr Schatten”, 1948 noch unmittelbar unter dem Eindruck des nationalsozialistischen Rassenwahns verfasst, der sich, nebenbei gesagt, im ästhetischen Ideal makellos gemeißelter Körper spiegelte, – 1948 also schreibt Levinas: ,,Besteht die Funktion der Kunst aber nicht gerade darin, nicht zu verstehen? Liegt nicht gerade in der Dunkelheit ihr eigentliches Element, … Die Kunst erkennt nicht einen bestimmten Typ von Wirklichkeit, sie hebt sich vielmehr scharf von der Erkenntnis ab. Sie ist das Ereignis der Verdunkelung selbst, ein Einbruch der Nacht, eine Ausbreitung der Schatten”¹.

Dank ihrer Radikalität rufen diese Sätze ins Bewusstsein, dass es nicht genügt, von der Kunst zu sprechen. Unterscheidungen sind zu treffen. Es gibt Kunst, die visuelle Sensationen verschafft oder die Wahrnehmung schärft und die Augen öffnet für bislang unbekannte Sehweisen. Es gibt auch eine Kunst des schieren schönen Scheins, der Klärung und Verunklärung, sogar der Lüge. Es gibt eine Kunst der ratio­nalen Vernunft, des Vertrauens darauf, dem Guten, im besten Sinn Humanen zum Durchbruch zu helfen. Und es gibt eine Kunst des Dun­kels, die nichts mildert, nichts lindert, nichts relativiert und die nichts weiter verspricht, als dass der Schrecken Schrecken bleibt und der Schmerz Schmerz.

Hier, in dieser Ausstellung, gibt das Dunkel den Ton an. Nicht so sehr auf den Bildern, wenngleich es auch dort um sich greift, vor allem auf den beiden Leinwänden, die Gustav Kluge zu einer Einheit zusam­mengefasst und wie einen Querriegel in den Raum gelegt hat. Snake Fake hat er diese Arbeit genannt, die beherrscht wird von flächende­ckendem Schwarz. Einern Schwarz, das zusätzliche Steigerung erfährt durch einen hellen, nebelartigen Flor. Wie ein schemenhafter Leichnam, eine schlangenhafte Mumie schwebt er weißlich über der düsteren Sze­nerie. Was sich dort zeigt ist das Dunkel der Malerei und ihrer todes­verhangenen Erzählung. Darüber hinaus aber ist diese Ettlinger Werk­schau bestimmt durch ein prinzipielles Dunkel, eines, das sich nicht zeigt und das zugleich eine nachgerade kategorische Dimension ent­faltet. Es das Dunkel des Nicht-Erkennen-Könnens, und es ist ziemlich klar umrissen. Gustav Kluge hat einen Saal ausschließlich mit Zeich­nungen bestückt, und genau dort manifestiert sich das Defizit, wider alles bessere Wissen von tiefer gehender Erkenntnis ausgeschlossen zu sein. Kluge konfrontiert mit einem Paradox. Er bietet eine Über­sicht über den Weg, den er als Künstler in den vergangenen vier Jahr­zehnten zurückgelegt hat, und er wählt dafür ein Medium, dem der Ruf besonderer Unmittelbarkeit voraus eilt. Sind Zeichnungen nicht oft­mals ungefilterte Niederschriften dessen, was ihren Autor bewegt? Die Blätter, die Kluge offenlegt, geben ja mit jedem Strich zu verstehen, dass sich der Künstler keinerlei Selbstzensur unterworfen hat. Da ist viel zu sehen – Erschreckendes, Verstörendes, Beklemmendes. Aber noch viel, viel mehr ist eben nicht zu sehen. Gustav Kluge bietet einen dicken Packen Zeichenblöcke zur Betrachtung an, aber von den 30, 50, 100 Blatt, die jeder von ihnen umfasst, ist jeweils nur eines auf­geschlagen. Tausende von Seiten bleiben den Blicken der potenziellen Betrachter entzogen.

Wie heißt es in Brechts „Moritat von Mackie Messer“: ,,Und man sie­het die im Lichte / Die im Dunkeln sieht man nicht”². So stellt sich, poetisch umschrieben, die Situation bei den Zeichenblöcken dar. Mit seiner Arbeit „Snake Fake” versetzt Kluge nun dem Ineinander von „offenbar” und „verborgen” einen zusätzlichen dialektischen Dreh. Das von rußiger Schwärze dominierte Bild wirkt wie eine Sperre. Wie eine Sichtblende, die daran hindert, das Gemälde näher in Augenschein zu nehmen, das sich hinter diesem dunklen Riegel verbirgt. Ein schma­ler Streifen immerhin lässt sich erkennen, und der Clou dabei ist, dass der Künstler seinem Publikum eine Art Aufklärungshilfe an die Hand gibt. Auf der Einladungskarte zu dieser Ausstellung ist die Reproduk­tion eines Werks mit dem Titel Letzte Liebe abgebildet. Auf ihm sind zwei Menschen wiedergegeben. Schwer auszumachen, ob sie über- oder nebeneinander liegen. Schwer auch zu entscheiden, ob sie vielleicht Opfer einer Feuersbrunst oder Brandkatastrophe wurden. Einer der beiden liegenden jedenfalls ist nackt, und seine Haut weist eine der­art branstige Röte auf, dass zu vermuten ist, er habe Verbrennungen mindestens ersten Grades erlitten. Der Eindruck wird durch die zweite Figur noch verstärkt. Von den Zehen bis unters Kinn ist sie offensicht­lich eng mit Mullbinden umwickelt, als habe es sie schlimmer erwischt als den, der neben ihr ruht.

 


Snake Fake, Öl auf Leinwand, 2012, 150 x 280 cm & 150 x 285 cm

 

Wieder das Mumien-Motiv, wieder der Gestus des Vorenthaltens, der durch die Positionierung der Bilder hier im Hauptraum des Kunst­vereins ungerührt zum Ausdruck gebracht wird: Halt, und nicht wei­ter! Der Zugang zu dem Originalgemälde, das doch wohl die Vorlage für die Abbildung auf der Einladungskarte lieferte, bleibt verschlos­sen. Offen ist lediglich die Frage, ob es sich bei dem Bild, das hinter dem quergestellten Breitbandformat an der Wand lehnt, auch wirklich um das abgebildete Werk handelt. Mit letzter Gewissheit lässt sich das nicht sagen. Dass dieses Werk tatsächlich reproduziert wurde, dafür gibt es nur zwei Indizien: zum einen die spannungsgeladene, aus Rot und Grün aufgebaute Farbigkeit, zum anderen das rätselhafte Gebilde, das Gustav Kluge an den oberen Bildrand gemalt hat und das sich wie­derum einer eindeutigen Zuordnung entzieht. Kennzeichnen die bei­den weißen Linien, die im stumpfen Winkel aufeinander zustoßen, ein Hausdach – gleichsam als zeichenhaftes Kürzel für Obdach und Behau­sung? Sind mit ihnen zwei Neonröhren gemeint, die ein Krankenlager beleuchten? Oder stehen sie für den Stab, der über dem Schicksal des ruhenden Paares gebrochen wurde?

Eine gedruckte Information mit einer Abbildung in gestochen schar­fer Qualität steht zur Verfügung, aber es lässt sich nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen verifizieren, wie weit sie sich mit der Rea­lität dieser Ausstellung deckt. Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, Sie sind viel zu gebildet, als dass ich Sie an dieser Stelle mit Erörterungen zu Walter Benjamin und seinen Aufsatz „L’œuvre d’art à l’époque de sa reproduction mécanisée” ermüden dürfte, der 1936 in der von Max Horkheimer begründeten Zeitschrift für Soziologie erstmals publiziert wurde. Sie sind auch, sehr geehrte Damen und Herren, viel zu vertraut mit den radikalen Umwälzungen, die mit den digitalen Technologien einhergehen, um darauf aufmerksam gemacht zu werden, dass im Zeitalter von Photoshop, Flickr oder lnstagram die Grenzen zwischen Realität und Simulation unscharf und schwammig geworden sind. Inso­fern können diese kurzen, kursorischen Hinweise genügen, zumal die medientheoretische Komponente im Werk von Gustav Kluge nur einen, und durchaus nicht den zentralen Aspekt markiert – schon gar in die­ser Ausstellung, die „Post aus Laatzen” parat hält und somit stark auto­biografische Züge trägt, denn Laatzen bei Hannover ist der Ort, in dem Kluge seine Jugend verbrachte.

Wir nehmen die Dinge wie sie sind. Mutter, Vater, Kind. Familie, Gesellschaft, Welt. Unübersichtlich die Welt, undurchsichtig ihre Funk­tionsmechanismen, Verschleierungstechniken. Aber die Fragen und Unwägbarkeiten beginnen nicht erst dort, wo die großen ökonomischen, politischen oder sozialen Zusammenhänge berührt werden. Vater, Mut­ter, Kind. Kind, Vater, Mutter. Mutter, Kind, Vater. Knappe, lapidare Bezeichnungen, und doch weiß jeder, wie behaftet, befrachtet oder auch belastet sie oftmals sind. Ummantelt und manchmal bis zum see­lischen Ersticken eingeschnürt von verdrängten Erinnerungen, quä­lenden Traditionen und einem Wust an Ungesagtem. In Anton Čechovs Stück „Drei Schwestern” ist viel die Rede von einem verstorbenen Vater; immer wieder wird der Vater zum Dollpunkt für verklärte Reminiszen­zen an bessere Zeiten. Die Monotonie ihres müßiggängerischen All­tags ödet die Menschen an, und so träumen sie von einem Leben in der Metropole. ,,B Mockby”, ,,Nach Moskau! Nach Moskau! Nach Moskau!”³ wird zum Mantra ihrer vergeblichen Hoffnungen. Čechovs Drama wurde 1901 uraufgeführt, nur 13 Jahre später kursierte in Deutschland eine ähnliche Wunschformel. Diesmal war nicht Moskau das Ziel, sondern Paris, und nicht ein Traum stand als Motiv im Hintergrund, sondern ein Wahn. Ein Spaziergang sollte es werden, ein Ausflug in die französische Hauptstadt, der am Ende Millionen Menschen das Leben kostete. Auch Künstler wie August Macke und Franz Marc waren unter den Toten.

Fritz Eylert, Gustav Kluges Großvater hatte, wenn man so will: Glück. Er kam mit einem Granatsplitter davon, der sich ins Hirn bohrte. Die Ärzte prognostizierten, er könne noch zehn Jahre leben. Er könne sich aber auch operieren lassen. Dann stünden die Chancen fifty­fifty. Kluges Großvater entschied sich für die zehn Jahre. 1927 starb er. Zu seinem Nachlass gehörte ein Bild, das später bei Kluges Eltern im Wohnzimmer über dem Sofa hing. Er hatte es 1913 gemalt, und es war das Dokument eines verlorenen, abgetriebenen Traums: Fritz Eylert hatte Maler werden wollen, doch der Vater (also Gustav Kluges Urgroßvater) drückte die künstlerischen Ambitionen des Sohnes auf Anstreicherformat: Malermeister ja, Maler nein. Keiner in der Fami­lie empfand nachher, während der SOer-, 60er-, 70er-Jahre offenbar das Bedürfnis, nach den abgewürgten Wünschen und Zukunftsplänen zu fragen, die wie ein Firnis über dem Landschaftsbild liegen. Es war halt da, gehörte zur Grundausstattung bürgerlicher Heimeligkeit wie Bücher, Lampen oder Schalen für Nüsse oder Knabbergebäck.

Viel später erst erfuhr Gustav Kluge von der Vorgeschichte des Gemäldes. Da hatte er, Kluge, sich bereits auf eine ähnliche Reise bege­ben wie einst Odysseus, der von seinen Irrfahrten erst erlöst wurde, nachdem er hinabgestiegen war in den Hades, in das Totenreich, und Kontakt aufgenommen hatte mit denen, die mit ihm gelebt und für ihn gelitten hatten. In einem übertragenen, modernen Sinn hat sich Kluge dieses Vorgehen zueigen gemacht. Er hat sich selbst auf die Spur seiner Vergangenheit und Vorvergangenheit gesetzt, hat aufgedeckt, erkannt, verstanden, und jetzt hier, in einem kleinen Kabinett der Wilhelmshöhe, ein Environment eingerichtet. Es ist ein Arrangement mit, wie man so sagt, sehr persönlichen Dingen, darunter etwa ein Kunstbuch über Paula Modersohn-Becker oder eine Ausgabe des Romans „Die Jeromi­Kinder” von Ernst Wiechert: Befand sich der Band vielleicht deshalb in Familienbesitz weil Wiechert, der von Goebbels gehasste Autor, im Ersten Weltkrieg wie weiland Fritz Eylert durch Granatsplitter verletzt wurde? Und welche mentalen und moralischen Auswirkungen hatte es auf Kluges Großeltern, dass sie am 12. November 1917 „Zum geseg­neten Gebrauch und zum Andenken an den Tag der Trauung” eine Bibel überreicht bekamen mit dem Motto „Ein feste Burg ist unser Gott”? Es ist im Kontext dieser Ausstellung nicht unbedingt von Belang, die familienarchäologischen Relikte en Detail und mit ihren spezi­fischen Folgerungen für die einzelnen Generationen zu kennen. Die Botschaft, die von Kluges Environment ausgeht, besteht zunächst in einer Frage an ihn selbst: Ist er der unterbewusst geleitete nachge­borene Erfüllungsgehilfe für die unerhörten Wünsche seines Großva­ters? Für uns, die Außenstehenden, manifestiert sich diese Botschaft darin, dass Kluge die Epoche zwischen Kriegsende und Wirtschafts­wunder mit ihrer etwas düsteren Gemütlichkeit, ihrer vielfach von schlechtem Gewissen verschatteten Behaglichkeit evoziert. Darüberhi­naus hat die private Rückschau prinzipielle Bedeutung: Sie erinnert an die historische Abhängigkeit jeder Biografie. Und sie rückt noch ein­mal die Unzulänglichkeit des scheinbar Selbstverständlichen ins Blick­feld. Noch im Vertrautesten steckt etwas Fremdes, ein Geheimnis. Sich dessen bewusst zu sein, hat nichts mit Misstrauen zu tun, sondern mit Respekt, weil das Bewusstsein von der Fremdheit damit rechnet, dass hinter dem Leben eines Menschen mehr steht, als im Moment sicht­bar wird.

Die Dinge so zu nehmen wie sie sind, heißt denn auch nicht, sie um jeden Preis so belassen zu wollen, wie sie sind – es heißt nur: sich nichts vorzumachen. Hier offenbart die künstlerische Arbeit von Gustav Kluge ihren ästhetischen Kern: Er will sich und anderen nichts vorgaukeln, wie er gerade auch mit seinen Zeichnungen demonstriert. Keine Beschö­nigungen: der Mensch als verletztes und verletzendes Wesen, Folte­rer und Opfer, von Apologeten ideologisch sanktionierten Besserwis­sertums deformiert, vom Dünkel der Superanständigen geknechtet. Es wäre dazu noch einiges anzuführen, etwa über Ezra Pound, den US­amerikanischen Dichter der „Cantos”, der sich lautstark zum Faschis­mus bekannte und den seine Landsleute nach Kriegsende unter freiem Himmel in einem Käfig hielten; die erste der Zeichnungen, die Kluge hier im Kunstverein zeigt, thematisiert diesen Sachverhalt. Zu reden wäre von Antonin Artaud und seinem „Theater der Grausamkeit”, von Franz Kafka und von Gregor Samsa, der zentralen Gestalt in dessen Erzählung „Die Verwandlung”. Auch an dieser Stelle appelliere ich an Ihre Bildung und an Ihre Bereitschaft, Fragen zu stellen, immer neue Fragen an die Kunst – und nicht zuletzt an sich selbst.

Michael Hübl
Ettlingen, 16. Februar 2013

 

 

¹ Emmanuel Levinas: ,,Die Wirklichkeit und ihr Schatten”, zit. nach Kai Hammermeister:
Kleine Systematik der Kunstfeindschaft. Darmstadt 2007,S. 79
² Bertolt Brecht: Die Beule. Ein Dreigroschenfilm (1930). Frankfurter Ausgabe, Bd. 19, S. 320,Z. 42/43
³ Anton Cechov: Drei Schwestern. zit. nach Anton Tschechow: Drei Schwestern.
Russisch/ Deutsch. Stuttgart 2010, S. 106/107