Günther Gercken
Holzdruck-Manifeste

 

Gustav Kluge hat in der Zeit von 1984 bis heute ein umfangreiches und vielschichtiges Holzdruck-Werk geschaffen, wobei vielschichtig sowohl im technischen als auch im inhaltlichen Sinne zu verstehen ist. Der Umfang bezieht sich weniger auf die Zahl der Motive, von denen 184 erfasst wurden, als vielmehr auf die zahlreichen monotypieartigen Druckvarianten. Am Ende des Jahrhunderts hat er die alte Technik des Holzschnitts, dessen Blütezeit während des Expressionismus lange zurückliegt, zu einer neuen bildnerischen Form weiterentwickelt und im Holzdruck, der in seinem Werk einen großen Stellenwert besitzt, einen charakteristischen Stil entwickelt, der so eigenständig ist, daß ich keine vergleichbaren Arbeiten kenne. Statt der herkömmlichen Holzschnitt-Graphik für die Graphik-Mappe sind gedruckte Bilder entstanden, die besonders in den Leinwand-Drucken nach Größe und Erscheinung gemalten Bildern ähnlich sind, jedoch mit dem Unterschied, daß die Farben durch die Technik des Hochdrucks aufgetragen werden, häufig ergänzt durch eine farbige Unter- oder Übermalung.

Die Veränderung gegenüber dem traditionellen Künstler-Holzschnitt, bei dem die künstlerische Arbeit im Schneiden des Druckstocks liegt, wird auch durch den treffenderen Namen Holzdruck ausgedrückt. Gustav Kluge betrachtet den geschnittenen Druckstock als einen Rohling, der dazu dient, das Bild als das eigentliche Kunstwerk zu gestalten. Während viele Künstler nach der Herstellung des Druckstocks die Produktion der Graphik dem Drucker überlassen, macht für ihn das Drucken und die Überarbeitung der Drucke einen wesentlichen Teil der künstlerischen Tätigkeit aus, die nicht von anderer Hand ausgeführt werden kann.

In den wenigsten Fällen wird eine Vervielfältigung im Sinne einer Graphik-Auflage angestrebt, vielmehr geht es um die Gestaltung des einzelnen Bildes. Bis auf die drei größeren Editionen Steht ein bucklicht Männlein da …, 1985, und die der Griffelkunst-Vereinigung Hamburg-Langenhorn von 1985 und 1996 sind die Blätter und Bilder als Handdrucke vom Künstler selbst angefertigt. Da er mit verschiedenen Farben, Teildrucken, Mehrfachdrucken und bei mehreren Druckstöcken mit einer veränderter Druckreihenfolge sowie mit den unterschiedlichsten Bildträgern experimentiert, sind praktisch alle Drucke Unikate. Durch die Wiederholung des Druckvorgangs von einem oder mehreren Stöcken und durch teilweises Wiederabwaschen der Farbe zwischen den Druckvorgängen entstehen vielschichtige Bilder.
In dem Wechsel von Hinzufügen und Wegnehmen überlagern sich viele Druckebenen, so daß die scharfen Konturen gebrochen werden und eine transparente Farbigkeit über dem Bild liegt. Das rohe Ausgangsmaterial der Bodendielen, Türen und Baumscheiben steht im Kontrast zu dem differenzierten Ergebnis des gedruckten Bildes. Tatsächlich wird der Druckstock nur als ein Werkzeug wie der Pinsel zum Malen eines Bildes benutzt.

STEHT EIN BUCKLICHT MÄNNLEIN DA …
12 Farbholzdrucke von 2 Platten (rot, schwarz) auf Japanpapier
30 num. Expl. und 3 Expl. h. c., Edition Schoppmann, Dortmund, Dezember 1985

Warum wird, wenn der Druckstock nicht der Vervielfältigung dient, überhaupt die Holzschnitt-Technik verwandt? Der Holzschnitt zwingt durch die skulpturale Bearbeitung des Stockes und durch den Flächendruck zu einer entschiedenen, großformigen Bildorganisation. Durch den Schnitt oder Riss gegen den Widerstand des Materials entsteht im Zusammenspiel mit der natürlichen Beschaffenheit des Druckstocks die Form. Die Bretterstruktur des Nut- und Federholzes und die Rundform der Baumscheiben werden bewußt in die Komposition einbezogen, sei es im Miteinander oder im Gegeneinander zu den geschnittenen Formen. Wie ausgestanzt können die Motive im Hochdruck auf dem Bildgrund stehen. Die herausgeschnittenen Formen erscheinen im Druck als Leerformen, die ebenso wie die Positivformen der druckenden Flächen in die Gestaltungen des Bildes eingebunden werden müssen. Da der Holzdruck das Relief aus erhöhten und vertieften Flächen auf dem Bildträger abbildet, nimmt er eine mittlere Stellung zwischen Skulptur und Malerei ein, eine Feststellung, mit der schon die Neuartigkeit der Holzschnitte von Paul Gauguin charakterisiert wurde. Dies wird im Werk von Gustav Kluge an den reliefartigen Holzobjekten aus Bodendielen besonders deutlich, die als Plastiken ausgestellt und von denen auch mit der Hand abgezogene Teil- und Ausschnittdrucke hergestellt wurden. In einem Falle bildet der Druckstock zusammen mit einem schwarzen Druck ein Gesamtwerk: von der Arbeit Baumschlaf, 1989 [CVII], gibt es neben mehreren Holzdrucken ein Bodenobjekt aus der Druckstock-Skulptur und einen Gazedruck, der über fünf Rundhölzern liegt.

Die Eigenheit in der Behandlung des Holzdrucks und die Experimentierfreude in der Bildfindung lassen sich schon an der ersten Arbeit des gültigen Holzdruck-Werkes, Die Nachtschwester, 1984 [I], erkennen. Die Druckplatte besteht aus einem Bügelbrett, an die eine rechteckige Platte angeschraubt ist. Aus dem Bügelbrett wird die Figur der Nachtschwester herausgeschnitten. In der rechteckigen Platte erscheint im 2. Zustand eine schwebende Figur, die im 3. Zustand weiter aufgelichtet wird. Im 4. Zustand kommt unten eine weitere Platte hinzu. Der Druckstock wird nur in Schwarz gedruckt, aber der schwarze Druck ist in den Leinwanddrucken des 4. Zustands Teil eines farbig übermalten Bildes. Die acht Leinwandfassungen, die zwar inzwischen vereinzelt sind, lassen sich zu einem Tableau der Variation eines Bildes mit unterschiedlichem Ausdrucksgehalt zusammenstellen. Auch die Collage-Technik wird bereits verwandt, indem drei Teildrucke zu dem Bild zusammengesetzt werden (Abb. S. 4). Die Nachtschwester, auch eine Schwester der Nacht, blickt auf zu dem (ent)schwebenden Phantom, das die körperliche Hülle verlassen zu haben scheint. Das Thema und die Variation des ersten Holzdrucks bilden den Auftakt für die weitere Entwicklung, auch wenn sich in den späteren Farbholzschnitten die Drucktechnik noch wesentlich verfeinern und bereichern wird. Das gesamte Holzdruck-Werk besteht aus einzelnen Arbeiten, die sich häufig auf Gemälde beziehen, und acht Zyklen, die jeweils einen strengen formalen Zusammenhalt haben und um ein Thema kreisen – angefangen mit den Drucken zur Gegenchronik, 1984, bis zu Der achte Zyklus, 1999/2000, der im Zusammenhang mit dem Werkverzeichnis entstanden ist. Die Zyklen strukturieren das Holzdruck-Werk, und in ihnen kulminiert manifest-artig das künstlerische Anliegen Gustav Kluges in diesem Medium. Überblickt man die acht Zyklen insgesamt, so läßt sich im Laufe der Jahre eine Veränderung im Verhältnis von Ideengehalt und bildnerischer Gestaltung bemerken. Während in den frühen Zyklen das Bild in den Dienst einer inhaltlichen Aussage von Erfahrungen traumatischen Charakters gestellt wird, werden in den späteren stärker die bildnerischen Möglichkeiten des gedruckten farbigen Leinwandbildes reflektiert und die Variation der Bildherstellung durch Überdrucken und Abwaschen, durch Hinzufügen und Wegnehmen ausgeschöpft.

Durch den Fragment gebliebenen vierten Zyklus, Futurum II, 1989, wird der Übergang von der frühen Phase zur späteren markiert. Von dem gedanklich entworfenen Zyklus, der psychodynamische Modelle der neuen Welt (Amerika) und der alten Welt (Europa) und der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Bilder fassen sollte, wurde nur eine Arbeit realisiert. Auch dieser nicht ausgeführte Entwurf eines Zyklus ist in das Werkverzeichnis aufgenommen worden, weil er die Arbeitsweise des Künstlers verdeutlicht und im Abbrechen auch das Gelingen der anderen Zyklen beleuchtet. Die gedankliche Konstruktion war zu abstrakt und das in die Zukunft projizierte Vorzeitige (Futurum II) zu unbestimmt, um in eine bildhafte Form umgesetzt werden zu können. Desto beachtlicher ist die Tatsache, daß dies in den anderen Zyklen gelungen ist, deren Ideengehalt nicht weniger anspruchsvoll, aber konkreter ist, so daß eine sinnliche Form dafür gefunden werden konnte.

Psychodynamisches Modell der neuen Welt (Blatt 1 von Futurum II)
Farbholzdruck von 2 Platten auf Leinwand, 1989, 2 Expl.

Von den Arbeiten außerhalb der acht Zyklen lassen sich Gruppen bilden, die thematische oder formale Gemeinsamkeiten und den Ansatz zu Zyklen haben. Ein Thema, das vier Holzdrucke umspannt, ist die Sehnsucht der Menschen zu fliegen und das Scheitern der frühen Flugversuche (Der Schneider von Ulm [LXXI], Geflügelter Mann [LXXII], Flugversuch I und II [LXXXV] und [LXXXVI]). Der Schneider von Ulm, von dem es drei verschiedene Zustände gibt, erinnert an den mißlungenen Flugversuch von 1592 und an das gleichnamige Gedicht von Bertolt Brecht. Brecht benutzt den Absturz und das Wissen von der weiteren Entwicklung der Flugtechnik zur Widerlegung der apodiktischen Feststellung des Bischofs, dem er die Worte in den Mund legt: »Es waren nichts als Lügen / Der Mensch ist kein Vogel / Es wird nie ein Mensch fliegen.« Der Vergleich der drei Zustände ist aufschlußreich für die Arbeitsweise des Künstlers mit den Mitteln Druck, Papier und Collage. Der frühe Zustand, in dem die seitlichen Bretter noch nicht aufgeschnitten sind, ist auf blauem Papier gedruckt. Um die Figur als zusätzliche Ebene hervorzuheben, wurde sie vor dem Druck mit weißem Papier unterlegt. Im Schwarzweiß-Druck des zweiten Zustands auf Japangaze ist der Holzstock, dessen Struktur sich besonders klar abzeichnet, weiter aufgeschnitten, so daß der Ulmer Münsterturm hinter dem schwebenden Schneider erscheint. Für den dritten Zustand wurde die Sonnenscheibe aus dem Druckstock herausgesägt, getrennt gedruckt und in den Holzdruck collagiert.

Einen formalen Zyklus könnten die Ringkompositionen darstellen, die in ihren sehr großen Formaten als Holzreliefs entworfen wurden, von denen der Künstler aber auch Teil- oder Ausschnittdrucke abgezogen hat. Zu den Kompositionen aus einer Kreisform gehören Das große Rad, 1984 [XVI], Ringbaum, 1989 [CIX], Der 0. + Prof. A. operieren die Zeit, 1990 [CXI], und Pendel, 1991 [CXIX]. Auch der Holzdruck Im Labyrinth, 1988 [XCVI], ist aus Kreisen aufgebaut. Die Neue Münze (2 Mark), 1989, eine Rundform aus Nut- und Federbrettern, gibt es nur als eingefärbten Holzstock. Große Arbeiten, in denen zwei Kreise ineinandergreifen, sind Kontakt zwischen zwei Populationen, 1988 [C], als Edition von Teildrucken für die Galerie Rudolf Zwirner erschienen, und Geburt des Geldes, 1991/92 [CXXIX]. Den kleinen Ringkompositionen liegen als Druckstöcke Baumscheiben zugrunde, die in Lösegeld zu Münzformen geprägt wurden, aber auch in Die zweite Haut und der Griffelkunst-Edition von 1996 vorkommen. Eine weitere kleine Gruppe bilden die vier verschiedenen Fassungen eines Sitzenden von 1989 [CII] bis [CV].

Nach diesem Überblick und dem Versuch einer Strukturierung des Gesamtwerkes sollen die einzelnen Zyklen näher betrachtet werden. Die Drucke zur Gegenchronik von 1984, den ersten Zyklus, kann man als eine bebilderte Zeitgeschichte lesen, in der Gustav Kluge aktuelle Mißstände mit historischen Ereignissen verbindet. Die Zusammenschau gibt dem Zeitgenössischen eine Tiefendimension und dem Historischen eine Gegenwärtigkeit. Sie bestätigt die pessimistische Auffassung, daß Staatsterrorismus und Folter als Konstante die Geschichte durchziehen. Gegenchronik heißt Zeitbilder im Gegensatz zur bekannten Chronik, Bilder, die in der üblichen Geschichtsschreibung vergessen oder unterdrückt werden und deren schmerzende Inhalte von der Gesellschaft verdrängt werden. Wenn man an den Brecht-Song denkt: »Und man siehet die im Lichte / Die im Dunkel sieht man nicht«, dann leuchtet Gustav Kluge mit seinen Holzdrucken das Dunkel aus.

In diesem Zyklus arbeitet der Künstler meistens nur mit einer Platte, die in Schwarz auf eine sparsam farbig lasierte Leinwand gedruckt ist. Im Gegensatz zum Reutlinger Katalog von 1986 werden die Schwarzdrucke, auch wenn sie durch Unter- und/oder Übermalung farbig erscheinen, nicht als Farbholzdrucke bezeichnet. Die überwiegende Schwärze der gedruckten Figurenbilder enspricht dem Ernst der düsteren Themen. Trotz der Inhaltlichkeit heben sich die Bilder deutlich von Illustrationen ab, da für die thematische Vorgabe eine schlüssige Bildlösung gefunden wurde, so daß gültige Bilder entstanden sind.

Der Holzdruck Das Lied vom Generalstreik [V] bezieht sich auf ein aktuelles Zeitereignis, den Aufruf zum Generalstreik in der Bundesrepublik, und verarbeitet ein Motiv nach einem Holzschnitt von Ernst Barlach aus den Illustrationen zu dem Gedicht Der Kopf von Reinhold von Walter mit dem Titel Bettlermajestät, 1919. Der verkrüppelte Zwerg wird auf einem Holzständer der Menschenmenge vorgeführt. »Das Jammerhaupt ist riesengroß, / Es drückt sich wie ein Berg / In das zerbrochne Tal der Schultern ein. / Es liegt wie abgehauen auf dem Brett« (Reinhold von Walter). Der Krüppelzug im 3. Druck zur Gegenchronik [VI], der sich in die Hauptstadt bewegt, demonstriert die Existenz der von Geburt Behinderten und Entstellten. Die Fütterung eines ungestalten Kindes [XI] gibt Einblick in die abgeschirmte Situation von Eltern und einem schwerstbehinderten Kind. Svedenborgs Schwestern [VIII] sind diejenigen, die wie der schwedische Mystiker von Visionen bedrängt werden und mit den Geistern der Toten reden.

Mehrere Drucke beschäftigen sich mit der Fortdauer der Folterung von Menschen und der Hexenverbrennung. Mit Vlad Tcepec [X] wird an einen ungarischen Gewaltherrscher erinnert, der Massenhinrichtungen durch Pfählungen ausführen ließ, an denen er speisend teilnahm. Reinigung des Parlaments von den Adlergedanken [IX] zielt mit der Abschaffung des Adlersymbols auf die Austreibung der Machtgelüste und Machtausübung, so wie Joseph Beuys als künstlerische Aktion vorschlug, im Staatssymbol den Adler durch das Kaninchen zu ersetzen. Werner Hofmann (Kat. Reutlingen, 1986) schrieb über diese radikalen und kraftvollen Holzschnitt-Bilder: »Zwar ist die ›Gegenchronik‹ ein Kreuzzug der mißbrauchten Kreatur, aber die Kritik an gesellschaftlichen Zuständen und der Spott über deren Hohlformeln heben sich über die Verbissenheit hinaus in eine Zwischenwelt, wo alles Gleichnis ist. Dem nachdenklichen und belesenen Künstler gerät der quälende Stoff zur Einsicht, daß sich diese Welt nur darstellen läßt, wenn die Tatsachen in den Rang von Metaphern gehoben werden.«

In dem Macoré-Kommentar, 1986, der thematisch an die Drucke zur Gegenchronik anknüpft und politische und gesellschaftliche Ereignisse kritisch beleuchtet, hat Gustav Kluge lebensgroße Figuren in Türblätter geschnitten und damit verfremdete Holzreliefs geschaffen. Das schöne Furnier könnte man als Scheinwelt deuten, hinter der im rohen Holz des Türblattes und der Hohlräume eine erschreckende Realität freigelegt wird. Indem die Figuren in der materiellen Tür wie im Durchgang zwischen verschiedenen Räumen erscheinen, erhalten sie eine magische Gegenwärtigkeit. Die mit den Messern (Macoré-Kommentar I) hängt mit dem Holzdruck Frida Kahlo im Rollstuhl, 1985 [XXXVII], zusammen, und stellt die durch ihre Unfallverletzung wie von Messerstichen gepeinigte Künstlerin dar. Die grausame Exekutionspraxis der südafrikanischen Opposition durch einen benzingefüllten und angezündeten Autoreifen um den Hals ist in das Türblatt IV (Die Sache mit dem Halsband) eingeschnitten. Jelly fish-baby nimmt Bezug auf die mißgebildeten Menschen-Embryonen (Quallenbabies) als Folge der Atombomben-Versuche in der Südsee.

Flucht vor den Großen (Macoré-Kommentar IX)
Durchdruck (Frottage) von Macoré-Türblatt, 1986, 2 Expl.

In der Flucht vor den Großen [LXX] befindet sich die Figur in panischer Fluchtbewegung, gleichzeitig aber ist sie wie gelähmt im Holz gebannt. Bewußt offen bleibt in der Darstellung, wer die Verfolger sind. Sie sind auch im Titel nur vage benannt, so daß dem Betrachter ein Bedeutungsspielraum gegeben ist. Das Eingraben der Schnitte hat Gustav Kluge in einzelnen Türen durch Intarsien und plastische Elemente ergänzt. Dadurch erhalten die Reliefs einen stärkeren plastischen Eigenwert und verlieren ihre Eignung als Druckstock. Nur von dem 9. Motiv, Flucht vor den Großen, wurden in der Frottage-Technik zwei Durchdrucke hergestellt, die im Gegensatz zu Holzdrucken das Motiv seitenrichtig wiedergeben und in der Zartheit ihrer Zeichnung die Flüchtigkeit der Erscheinung verstärken.

Auch der Zyklus Minus-Plus-Fuge, 1987, steht noch ganz im Zeichen des Schreckens und Erschreckens. Formal wird in die großen Holzdrucke die Bretterstruktur der Druckstöcke aus Nut- und Federholz einbezogen. In minus plus [LXXIX] verbirgt sich die Folterung hinter dem gedruckten Bretterverschlag und wird nur durch die Plus- und Minuspole der Elektroden gekennzeichnet. nunca mas (Niemals mehr!) [LXXVII], ist der Aufruf der südamerikanischen Antifolter-Bewegung. Der Holzdruck schildert die grausame Folterung, bei der ein Sack mit einer ausgehungerten Katze über den Kopf gestülpt wird. stupor mundi [LXXVI] mit der kaiserlichen Darstellung Friedrichs des Zweiten bezieht sich auf das Menschenexperiment, bei dem Kinder sprachlos aufgezogen wurden in der irrigen Annahme, die ursprüngliche Sprache ergründen zu können. Die beiden Holzdrucke Pferdliebchen [LXXVIII] und Brüderlein und Schwesterlein [LXXX] thematisieren das unheimlich Bedrohliche Grimmscher Märchen. Wie bei einer heimlichen Beobachtung ist durch eine große Schlüsselloch-Form das fortlaufende Geschwisterpaar zu erblicken. Der Pferdekopf im Holzdruck Pferdliebchen erinnert an den sprechenden Pferdekopf über dem Stadttor, »Falada, da du hangest«.

Lösegeld von 1991, eine Edition von 7 Farbholzdrucken auf Leinwand in 7 Exemplaren, nimmt nicht nur zeitlich, sondern auch im Charakter eine mittlere Stellung zwischen den frühen und späten Zyklen ein. Das Thema, die Bedeutung der Kunst und des Geldes und die Stellung des Künstlers, wird in ein strenges bildnerisches Konzept gepreßt. Die Reflexion über die Kunst und die technische Differenzierung des Farbdruckes durch den Mehrfachdruck von 2 Platten scheinen die grausamen, zerstörerischen und selbstzerstörerischen Themen der vorhergehenden Folgen zurückgedrängt zu haben.

Der Titel bezieht sich auf einen Gedanken von André Malraux, der die Kunst als »Das Lösegeld des Absoluten« bezeichnet hat. Der Künstler zahlt mit seiner Kunst die Ablöse für die Menschen. Vor diesem Gedankenhintergrund muß man den Zyklus sehen. Die Verbindung von Kunst und Geld gibt auch Veranlassung, über das Verhältnis zwischen gedruckter Kunst und gedrucktem Geld bildnerisch nachzudenken. Die Bilder auf den Münzholzdrucken unterscheiden sich von den üblichen Portraits der Könige oder Herrscher auf den geprägten Geldstücken. Die Kunst zahlt mit anderer Münze als dem Geldwert. Im Streitgespräch um den Zinsgroschen sagt Jesus: »So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.« Der Geldwert gehört zur weltlichen Macht, während der Kunstwert der geistigen Welt gehört.

Der Zyklus ist symmetrisch aufgebaut aus 4 Münzformen, von Baumscheiben gedruckt, und drei rechteckigen Platten, die Anfang, Mitte und Ende bilden. Der Drehpunkt des Ganzen ist der mittlere Holzdruck Hort, ein goldenes Ei, um das sich die bewachende und versuchende Schlange windet. Hort [CXXV] schildert die Macht und den verführerischen Mißbrauch des Geldes. Den Eingang und Abschlug macht ein Paar von hochformatigen Drucken aus, die eine menschliche Einzelfigur darstellen. Ein weiteres Paar bilden die zweite und zweitletzte Arbeit Stater Alpha [CXXII] und Stater Omega [CXXVII], Münznamen, die auf die durchgängige Geldmacht als Lebensenergie vom Anfang bis zum Ende hinweisen. Das dritte Paar schließt den Hort zwischen sich ein: Münze für die Armen [CXXIII], das christliche Motiv des Pelikans, der sich mit dem Schnabel in die eigene Brust hackt, um seine Jungen zu füttern, und die Münze für einen ungeborenen Diktator [CXXVI], der wie ein Todesengel drohend über der Erde schwebt.

Rotgeld [CXXVIII], der letzte Druck der Folge, handelt vom Künstler und der Kunstproduktion. Der Holzdruck bezieht sich auf das Bild mit dem Titel Anweisung wie man ein Bild malt, 1990, eine Anweisung, die keine technische Anleitung meint, sondern den kreativen psychischen Vorgang. Der Künstler öffnet sich mit beiden Händen die Brust und gebiert ein Tier, das in symbiotischer Verbundenheit in seinem Innern lebt. Kunst läßt sich nicht allein mit dem Kopf machen. Sie bedarf auch der unbewußten, vitalen Antriebe und der Entselbstung des Künstlers – wie Ernst Ludwig Kirchner es nannte. Interessant ist der Vergleich mit dem thematisch nahestehenden Holzschnitt von Edvard Munch Die Blutblume, 1898, in dem das Herzblut des Künstlers auf den Boden fließt und die Erde düngt, aus der die Pflanze der Kunst sprießt.

In den beiden Zyklen Die zweite Haut, 1993, und Standbilder Erschütterungsdruck, 1995/96, verschränken sich im Titel und in der Durchführung thematische und drucktechnische Begriffe. Als zweite Haut kann man den Druck auf dem Bildträger verstehen. In der mittleren, großen Arbeit, Die zweite Haut [CXLI] sind vier Platten des Zyklus zusammen auf Kalbfellimitat-Stoff gedruckt, eine Kunsthaut über der imitierten Naturhaut: Gleichzeitig werden mit den Holzdrucken Assoziationen an Häutung und Metamorphose geweckt. Baumscheibendrucke Kleine Kampfbahn [CXXXVIII] und Kreuzworträtsel [CXLIV] rahmen den Zyklus ein. An ihnen ist auffällig, daß die Umrisse der Figuren nicht geschnitten, sondern punktiert sind. Der ganze Zyklus steht unter dem übergreifenden Thema der Doppelfigur. So könnte Die zweite Haut auch als Bezeichnung für einen Doppelgänger gelten. Bei Zwei Brüder [CXXXIX] denkt man an die nicht unterscheidbaren Zwillingsbrüder im Grimmschen Märchen Die zwei Brüder. Auch besteht zwischen dem Zyklus eine Verbindung zu den Zwillingsmotiven, einer Werkgruppe, die 1984 in der Hamburger Kunsthalle ausgestellt war.

Der 7. Zyklus Standbilder Erschütterungsdruck, 1995/96, ist motivisch angelehnt an die Gruppe von Gemälden, die unter dem Titel konterfei 1996 in der Produzentengalerie Hamburg zu sehen war. Das Selbstbildnis Viertelakt (Erschütterungsdruck) [CLVI], 1995, ist die Holzdruck-Umsetzung des Gemäldes Viertelakt mit fleckigem Overall, 1995. Durch den zweimaligen, leicht versetzten Abdruck erscheint die Figur in einer wie verwackelten Unschärfe. Der Name Durch den zweimaligen, leicht versetzten Abdruck erscheint die Figur in einer wie verwackelten Unschärfe. Der Name Erschütterung beschreibt einerseits diese Drucktechnik, ist aber auch im übertragenen Sinn als seelische Erschütterung zu verstehen. Im zweiten Holzdruck des Zyklus geht das drucktechnische Verfahren in Analogie zur Photographie in den Titel als Doppelbelichtung [CLVII] ein. Das Doppelfiguren-Thema prägt auch die Holzdrucke Geleit [CLIX], Regenbogen-Paar [CLX] und Sitzender und sein Schatten [CLXI]. Der letzte Holzdruck gibt einen Ausschnitt aus dem Bild Drei und ihr Schatten von 1996 wieder und stellt die sitzende Person in der Verdopplung ihrer bewußten und unbewußten Seite dar.

Das Leitmotiv des Achten Zyklus, 1999/2000, der durch eine neue, leuchtende Farbigkeit überrascht, ist in denTitel des ersten Holzdrucks Überdruck [CLXXVI] eingegangen. Die graphische Technik des Hochdrucks erhält noch eine Steigerung durch den Überdruck. Intendiert war das Überdrucken des Drucks von einer Platte mit einer zweiten. Jedoch wurden nur in drei Arbeiten zwei Platten benutzt, in den anderen mit derselben Platte mehrmals übereinandergedruckt. In der Edition von je vier Exemplaren ist der Druckträger farbig lasierte Leinwand. Wenn im Werkverzeichnis von Überarbeitung geschrieben wird, dann heißt das, daß zwischen den einzelnen Druckvorgängen die wasserlösliche Farbe teilweise wieder abgewaschen und die Leinwand für einen erneuten Abdruck vorbereitet wurde. Auf diese Weise können einzelne Partien abgeschwächt oder gelöscht und mit einer anderen Farbe bedruckt werden. Mit Überdruck arbeiten kann außer im drucktechnischen auch im übertragenen Sinn verstanden werden, mit großer Anspannung das Werk hervorzubringen. Ichmichselbst [CLXXVII], zu dem es einen Zeichnungs- und Aquarellentwurf mit dem Titel Innen Außen Innen gibt, spürt in introspektiver Selbstwahrnehmung der Form und Funktion einzelner Organe nach. In Singsang vom Gestein [CLXXXII], dem ein gleichnamiges Gemälde auf Sackleinen vorausgeht, täuscht das Ohrensausen ein Singen und Rauschen der Steine vor. Charakeristisch für die Titelgebung des Künstlers ist der Name des letzten Holzdrucks WEHE [CLXXXIV], der die erotische Fesselung einer Frau aus dem japanischen Kulturkreis darstellt. Das Wort Wehe läßt in kalkulierter Offenheit verschiedene Bedeutungen wie Schmerz, Geburtsvorgang oder Androhung zu.

Führt man sich noch einmal die einzelnen Werke in ihrer Abfolge vor Augen, um eine übergeordnete Perspektive auf das Gesamtwerk zu gewinnen, dann fällt auf, daß Gustav Kluge dem Holzdruck einen Teil seiner ursprünglichen Sprödigkeit und Sperrigkeit läßt, so daß sich das Widerständige der Themen auch in der Technik ausdrückt. Die Stofflichkeit der Bretter, Bohlen und Baumscheiben und der gebrauchten Papiere geht in die Darstellung ein. Den Stofflichkeit der Bretter, Bohlen und Baumscheiben und der gebrauchten Papiere geht in die Darstellung ein. Den Materialien kommt kein ästhetischer Selbstzweck zu, sondern sie dienen der Veranschaulichung der Bildidee. Häufig werden die Arbeiten auch auf Zeitungspapier gedruckt und überlagern damit das kurzfristige Zeitgeschehen. In den Holzdrucken verbindet der Künstler seine Reflexionen über die uns bewegende Gegenwart mit menschheitsgeschichtlichen Bildern und historischen Ereignissen. Dies nimmt dem Zeitgeschehen zwar das Besondere des Einmaligen, aber es gibt ihm dafür das Schicksalhafte und Unausweichliche wie in einer griechischen Tragödie.