Hans-Werner Schmidt
Gustav Kluge. “Die Zeugungsfalle”

 

Der Arbeit Gustav Kluges ist die Hamburger Kunsthalle seit langer Zeit verbunden. 1975 kam die erste Radierung in die Sammlung, 1980 das erste Bild. Das sammlerische Interesse setzte sich kontinuierlich fort. Heute besitzt die Hamburger Kunsthalle sechs Gemälde, zwei monumentale Holz-drucke, zwei Zeichnungen, ein Aquarell und dreiundzwanzig druckgraphische Arbeiten.« So leitet Helmut R. Leppien sein Vorwort zum Katalog Gustav Kluge. Verbotene Orte ein. Die Ausstellung findet im Sommer 1997 in der Ham-burger Kunsthalle statt. Zeitgleich zeigt die Kunsthalle zu Kiel die Ausstellung Wasserfarben, die erstmals Kluges malerische Arbeiten auf Papier als einen großen Komplex vorstellt.

Der Autor hat sein Volontariat an der Hamburger Kunsthalle im August 1984 beendet, nur wenige Wochen vor Gustav Kluges erster Werkschau an diesem Ort — Das Zwillingsschema in der Ausstellungsreihe Standpunkte. Die Motivation, sich hier mit dem Werk von Kluge zu beschäftigen, hat somit unterschiedliche Ausgangspunkte und erfuhr über die Jahre immer wieder neue Schübe.

Die Zeugungsfalle (1984) ist eine Konstruktion, die sich auf zwei zusam-mengefügten Bildtafeln findet. Die Zeugungsfalle besteht aus zwei Käfigen. Be-dingt durch die Dimensionen stellt sich beim Betrachter das Gefühl körperlicher Berührtheit ein. Ein aufrecht stehendes Gehäuse ist auf der hohen Tafel plaziert, während ein niedriger Verschlag auf der kleineren Bildtafel dargestellt ist. Dieser, von seiner Pro-portionierung eher langgestreckt wirkend, schiebt sich in den Nachbar-käfig und überbrückt somit die Naht zwischen den beiden Bild-Tafeln. Auch wenn die Konstruktion der verkantet wirkenden Verbindung zwischen beiden Gehäusen in den Lineaturen des Aufbaus nicht abzulesen ist, scheint von dem niedrigen Käfig eindeutig der Aktivpart auszugehen.

Es entsteht der Eindruck, als sei mittels eines Klapp-mechanismus die Schmalseite zum Nachbarkäfig hin geöffnet. Dadurch wird eine Rampe gebildet, die das durch Verkantung entstandene Gefälle im Bodenniveau überbrückt. Das Eindringen in den hochkantigen Käfig scheint bewirkt zu haben, daß dieser nach links aus der Achse geraten ist. Während so zwischen beiden Käfigen ein Durchgang gebildet wird, bleibt die einzige Tür nach draußen verschlossen. Doch es ist müßig, angesichts des graphischen Knotens, der für das Schloß steht, über den Schließmechanismus nachzuden-ken. Gustav Kluge hat die beiden Käfige durch Linienaddition von der hinte-ren zur vorderen Front aufgebaut. Es ist die Vorstellung von Käfig und nicht die Nachzeichnung einer Körpergeometrie. Der Versuch des Nachbaus würde scheitern. Das Als-ob in der Gestalt mit den durchschaubaren aber nicht gänzlich erkennbaren Strukturen entspricht dem widersprüchlichen Wesen des Käfigs, der gleichzeitig Ort des Wegsperrens von der Welt und der Zurschau-stellung vor der Welt ist, der Insassen vor Außenstehenden wie auch umge-kehrt schützt und zudem die Strafe des Eingesperrten durch Schaustellung potenziert.

Im Folgenden soll erst einmal die Falle gedanklich umkreist werden. In bei-den Käfigen hängt je eine nackte Glühbirne. Die eine ist an der Decke des Gehäuses fixiert, die andere kommt von einem Ort jenseits der Bildgrenzen, ist somit außerkäfiges Licht. Es ist der Verweis auf einen Bereich außerhalb des abgeriegelten Bezirkes, für den es aber ansonsten keinerlei Bildzeichen gibt. Die Hermetik erscheint absolut. In den verschachtelten Gehäusen ist ein Fliegenschwarm unterwegs. Wie eine dunkle Wolke bewegt er sich von rechts nach links und bringt dort, durch aufgeregtes Umkreisen, die Glühbirne in Schwingung. Dies ist eine Momentaufnahme. Beide Lichtquellen leuchten gleich stark, und die Fliegen können nicht zu einer Entscheidung kommen, an welcher Lichtquelle sie Quartier beziehen. So stellt sich gedanklich das Bild des Oszillierens ein, der Bewegung zwischen zwei Zielen mit einer Orientie-rung ohne Zielbewußtheit. Die Fortbewegung der Fliegen im Schwarm können wir nur mit einer Chaosstruktur gleichsetzen. Es ist uns nicht möglich, eine Flugformation oder gar Kommunikationswege, die Richtungsänderungen mo-tivieren, auszumachen. Über die hier dargestellte Momentaufnahme hinaus können wir uns nur eine annähernd lineare Flugbahn von Lampe zu Lampe ausmalen, ein nervöses Umkreisen des Zieles, um dieses wieder zugunsten des anderen Lichtpunktes aufzugeben. Der Bewegungsablauf entspricht so dem Pendel, wobei die Ziele ebenfalls in eine Pendelbewegung versetzt werden.

Kluge verarbeitet bei seinen Fliegen-Bildern Eindrücke von Reisen in süd-liche Länder. Während der Nacht umkreisen die Fliegen unstet die Lichtpunkte in der Dunkelheit. Während der Schwarm in seinen Flugbewegungen einen gleichmäßigen Geräuschpegel erzeugt, zeigen die Flugbewegungen Ab-läufe voller Unruhe. Das Ziel, das sie wie magisch anlockt, wird im Sinne einer Positionierung nie erreicht. Auf Berührung der Lichtquelle reagieren die Flie-gen wie vom Schlag getroffen; der Großteil stirbt an Entkräftung.

Und dann gibt es die Schwärme am Tage, die Tierkadaver ansteuern und das Aas wie mit einer zweiten, nervös pulsierenden Haut überziehen. Viele ver-enden dabei im Sog der blutig-schleimigen Ausflüsse. Sie finden den Tod am Ort des Überflusses.

Diese Falle thematisiert Kluge nicht. Er zeigt die Fliegen bei dem uns zwanghaft erscheinenden Prozeß, stets neu über den Bewegungsablauf im Chor zu entscheiden, ohne dabei je ein Ziel zu erreichen. Der Ablauf gleicht der einer Entscheidungsneurose, bei der selbstquälerisch eine Orientierung gesucht wird, die aber keinerlei Folgen zeigt. Energie verpufft, Bewegung tritt auf der Stelle und läuft sich tot. Die Falle hat das Opfer trotz allen Aufbäumens in Gestalt hektischen Handelns eisern im Griff.

Leicht ist die zwanghafte Situation, in der sich die Fliegen befinden, als selbst auferlegte zu durchschauen. Die Fliegen könnten jederzeit die Käfige verlassen. Das Gitter hat nichts von der Engmaschigkeit eines Fliegennetzes. Die Welt außerhalb der Käfige ist eine lichte. Die Fliegen werden allein durch die beiden Glühbirnen an diesem Ort gehalten, die sie blind machen für den Umraum.

Kluges Zeugungsfalle rückt, wenn man im visuellen Zettelkasten blättert, andere Orte ins Blickfeld – die Raumgevierte bei Francis Bacon, in denen Men-schen im Licht einer Glühbirne wie auf Präsentiertellern zu finden sind. Allein das lineare käfigartige Gefüge vermittelt im Bild Halt, während die Körper und dabei vornehmlich die Physiognomien durch Auflösung der Konturen einen Blickrichtungsschwenk dokumentieren. Bei Max Ernst wird die Unruhe des Dargestellten benannt. Bei ihm gibt es das Portrait eines Jungen Mannes, beunruhigt durch den Flug einer nicht-euklidischen Fliege (1942 und 1947). Alle Versuche, den Flug der Fliege geometrisch anschaulich zu verorten, scheitern in einem Geflecht von Ellipsen, aus dem sich keinerlei definierbare Form ablesen läßt. Ilya Kabakovs Installation The life of Flies (1992) suggeriert den perfekt strukturierten Aufbau eines Fliegenstaates, und er präsen-tiert diese Erkenntnis in einem tristen Ambiente, in dem selbst Fliegen eingehen würden. Die hier erwähnten künstlerischen Arbeiten sind auf eigenen Bahnen angesiedelt, die den jeweiligen OEuvres eingeschrieben sind und die sich nicht mit Kluges Flug der Fliegen kreuzen. Um nicht der Gefahr der Fliegenbeinzählerei zu erliegen, soll stattdessen die Besinnung auf Kluges Werke mehr Licht in die Zeugungfalle bringen.

In einem Bild, betitelt Fliegenstaat — Machtbalance (1981/82), setzt Kluge sich erstmals mit dem Insektenschwarm auseinander. Trotz versprengter Ein-zelfliegen scheint der Fliegenstaat als Gesamtkörper um das Objekt der Begierde herum nicht aus seinen Fugen zu geraten. 1983 läßt er den Geburts-käfig folgen. Dieser Einzelkäfig ist von gleicher Bauart wie die Zeugungsfalle. Ein Fliegenschwarm im Inneren macht eine nackte Glühbirne zu seinem Spiel-ball. Die Tür nach draußen steht hier offen. Auf die Zeugungsfalle folgt 1985 die Verdauungskathedrale. Der Käfig ist auf seiner Rückseite geradlinig aufgetrennt, während die Vorderfront zerborsten erscheint. Die Fragmente ergeben das Bild zweier Türme mit frei-hängenden Glühbirnen. Am Boden der Ruine findet sich ein schwarzer Haufen, ein Verdauungsrest — oder die Anhäufung toter Fliegen, die an ihrem Ziel waren, ohne es je erreicht zu haben? 1988 entsteht die Wiege für eine zweite Natur. Ein mit Gittern eingerüsteter Bezirk zerbirst unter dem Aufbäumen eines Käfigs. Das Gehege, die Wiege, reproduziert das Vorgegebene. Der Ausbruch aus dem Käfig bringt den Käfig in die Welt. Das Alte gebiert das Alte. Die hier erwähnten vier Bilder entstehen innerhalb von fünf Jahren. Der Begriff der Folge greift dabei nicht innerhalb dieses zeitlichen Rahmens, auch angesichts der sonstigen reichen künstlerischen Produktion Kluges. Die Abfolge läßt zudem keine erzählerische Logik vor Augen treten.

Die Wiege für eine zweite Natur steht innerhalb dieser Gruppe der Zeu-gungsfalle gedanklich am nächsten. Die beiden Käfige in ihrem Zueinander suggerieren eine körperliche Stellung wie beim Zeugungsakt. Wie Spermien bewegen sich die Fliegen hin zum Ei. Die Glühbirne im begatteten Käfig ist mit der Konstruktion verbunden, ist Bestandteil der Anatomie, während die im anderen Behältnis wie implantiert wirkt und ihre Lebensquelle außerhalb des Organismus Käfig liegt. Doch diese Differenzierung muß den Fliegen in ihrem rastlosen Bewegungsdrang ohne befruchtenden Moment verschlossen bleiben. Der Titel Zeugungsfalle spricht ein Geschlechterverhältnis an, bei dem die Vulva zur Falle wird und die Leidenschaft des Mannes den Mann zum Opfer werden läßt. Alfred Kubin hat dazu Bildmetaphern geschaffen, die gleichsam als Begierdenspektakel und Angstkonzentrate kaum zu übertreffen sind. Doch Kluge gibt uns keinen ikonischen Draht in die Hand, seine Szenerie der Zeugungsfalle mit den Bildwelten eines Felicien Rops, Franz von Stuck oder Kubin zu verknüpfen. Je mehr der Betrachter, hier der Autor, den Ort Zeugungsfalle mit seinen lichten Polen bei unterschiedlicher Energieeinspeisung zu begreifen sucht, er die Flugbewegungen der Fliegen zu rekonstruieren oder zu projizieren versucht und dabei die außerkäfige Welt als Ausstieg mit einbezieht – das Geflecht der Möglichkeiten läßt sich nicht in einzelne Denkbahnen sezieren; der Versuch würde in einer Falle enden. In der von Helmut R. Leppien eingeleiteten Ausstellung gibt es Bilder mit geborstenen Käfigen, gesprengten Moniereisen, die nur noch Klammergriffe erahnen lassen, und ein geteiltes Tondo, das ein Netz in Auflösung zeigt. Der Käfig als Ort des circulus vitiosus hat seine eiserne Konsistenz eingebüßt. Die verbotenen Orte sind feinmaschiger abgeschirmt, die Verhaue haben längst ihren Transfer in lean versions erfahren. In ihrer Transparenz sind die Netze undurchsichtiger geworden. Man nimmt den Käfig, in den /aus dem man schaut, gar nicht mehr wahr.

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